"Es ist würzig in den Souks, es ist kühl und farbig. Der Geruch, der immer angenehm ist, ändert sich allmählich, je nach der Natur der Waren. Es gibt keine Namen und keine Schilder. Es gibt kein Glas. Alles, was zu verkaufen ist, ist ausgestellt. Man weiß nie, was die Gegenstände kosten werden, weder sind sie an ihren Preisen aufgespießt, noch sind die Preise fest.
Alle Gelasse und Läden, in denen dasselbe verkauft wird, sind dicht beieinander, zwanzig oder dreißig oder mehr von Ihnen. Da gibt es einen Bazar für Gewürze und einen mehr für Lederwaren. Die Seiler haben ihre Stelle und die Korbflechter die ihre. Von den Teppichhändlern haben manche große, geräumige Gewölbe. Man schreitet an ihnen vorbei wie an einer eigenen Stadt und wird bedeutungsvoll hineingerufen. Die Silberschmiede sind um einen besonderen Hof angeordnet, in vielen von ihren schmalen Läden sieht man die Männer bei der Arbeit. Man findet alles, aber man findet es immer vielfach.
Die Ledertasche, die man möchte, ist in zwanzig verschiedenen Läden ausgestellt und einer dieser Läden schließt unmittelbar an den anderen an. Da hockt ein Mann inmitten seiner Waren. Er hat sie alle ganz nah bei sich, es ist wenig Platz. ....Aber der Mann im Gelass neben ihm, der ganz anders aussieht, sitzt inmitten derselben Waren. Das geht vielleicht hundert Meter so weiter, zu beiden Seiten der gedeckten Passage. ....In dieser Zurschaustellung liegt viel Stolz. Man zeigt, was man erzeugen kann, aber man zeigt auch, wieviel es davon gibt. Es wirkt so, als wüssten die Taschen selber, dass sie der Reichtum sind.
....Es ist erstaunlich, wieviel Würde diese Gegenstände so bekommen, die der Mensch gemacht hat. ....Neben den Läden, wo nur verkauft wird, gibt es viele, vor denen man zusehen kann, wie die Gegenstände erzeugt werden. ....Es ist eine offene Tätigkeit, und was geschieht, zeigt sich, wie der fertige Gegenstand. In einer Gesellschaft, die so viel Verborgenes hat, die das Innere ihrer Häuser, Gestalt und Gesichter ihrer Frauen und selbst ihre Gotteshäuser vor Fremden eifersüchtig verbirgt, ist diese gesteigerte Offenheit dessen, was erzeugt und verkauft wird, doppelt anziehend......"
Dieser Text, geschrieben von Elias Canetti im Jahr 1954, und unter dem deutschen Titel "Die Stimmen von Marrakesch - Aufzeichnungen einer Reise", gibt auch heute noch, im Jahr 2016, einen realistischen Eindruck einer orientalischen Stadt. Ja, in den Herzen der marokkanischen Städte lebt er immer noch, der Orient.
Ich habe das Buch nach unserer Reise gelesen und es war, als würde ich noch einmal durch die Medina und die Souks von Marrakech, Fes und Rissani streifen. Nichts von den atmosphärischen Erscheinungen, die Canetti so treffend beschreibt, scheint sich in den letzten sechzig Jahren und vielleicht noch länger hier geändert zu haben. Außer, wie er bereits beschrieben hatte, dass sich "mehr und mehr Gesindel von zweifelhafter Herkunft, von Maschinen erzeugt (Waren!)" in die Souks eingeschlichen hat, damals noch vom Norden, jetzt aus dem Osten.
Aber auch für chinesische Ramschware gilt keine Preismoral. Was der zu verkaufende Gegenstand kosten wird, ist immer ein unbegreifliches Rätsel. Niemand weiß den Preis, auch der Kaufmann nicht, denn es gibt immer viele Preise. Jeder von ihnen bezieht sich auf eine andere Situation, einen anderen Käufer, eine andere Tageszeit, einen anderen Tag der Woche. Es gibt Preise für Fremde, die zum ersten Mal in Marokko sind, und solche für Fremde, die hier leben. Es gibt Preise für Arme und Preise für Reiche.